15.11.1954 – Ferdinand Vergin veröffentlicht einen Artikel über Sebastian Kneipp und die Kneipp-Kur

Titel

15.11.1954 – Ferdinand Vergin veröffentlicht einen Artikel über Sebastian Kneipp und die Kneipp-Kur

Beschreibung

In einer „Monatsschrift für positive Lebensführung“ vom November 1954 findet sich zum einen auf dem Cover ein sehr schönes Kneipp-Portrait, zum anderen ein lesenswerter Artikel über Sebastian Kneipp und die Kneipp-Kur („Ein Kneipp-Guß – eine wahre Wohltat und Labsal“), der die Elemente und Wirkprinzipien der Kneippschen Anwendungen treffend beschreibt. 1954 war gleichzeitig das Jahr, in dem Otobeuren mit der Kneipp-Kur „voll durchstartete“.

Auf Seite 2 geht Herausgeber Oscar Schellbach (1901 - 1970) kurz auf das Foto Kneipps ein:
Unser Titelbild zeigt SEBASTIAN KNEIPP, den großen Vorkämpfer für die Volksgesundheit durch Lebensreform. Kneipp war ganz und gar ein Mann aus eigener Kraft. Er ist der Reformator der Wasserheilkunde. Auch ihm selbst wurde das Wasser zum rettenden Engel aus schwerem Siechtum. Ausführlicher hierüber in unserem heutigen Aufsatz über Sebastian Kneipp auf S. 11.

Der Artikel von Ferdinand Vergin ist hier nachfolgend als Abschrift verfügbar, die alte Orthografie wurde beibehalten, es wurden lediglich weitere Schlüsselwörter fett markiert, Unterstreichungen sowie Hyperlinks eingefügt.

Vergin, Ferdinand
Ein Kneipp-Guß – eine wahre Wohltat und Labsal
Sebastian Kneipp, ein Vorkämpfer für die Volksgesundheit durch Lebensreform

Seine Gesundheit und Kraft soll man nicht ausschließlich fremder Hilfe anvertrauen. Man muß selbst Wille und Kraft zu eigenem Mitwirken aufbringen. Deshalb heißt es auch in Aufrufen der Krankenkassen, daß ihre Mitglieder bei geringfügigen Störungen der Gesundheit Hausmittel anwenden sollen, weil diese billiger sind und teure Medikamente und Arztkosten überflüssig machen. Dazu kommt, daß der Glaube an das Rezept im Volke ins Wanken geraten ist. Kneipp sagte in bezug auf die Erzeugnisse der chemisch-pharmazeutischen Industrie: „Sie machen das Mauseloch zu und lassen die Mäuse darin ...“ Indem er die Hausmittel wieder zu Ehren brachte, gab der große Gesundheitslehrer Pfarrer Sebastian Kneipp zu erkennen, daß er sehr gut über die Lücke unterrichtet war, die unausgefüllt in unserem sozialen Gesundheitswesen besteht. Er nahm daher seine Zeitgenossen in die große Schule der Mitverantwortung.

Auch heute noch müssen wir bekennen, daß der Zustand der Unverantwortlichkeit nicht mit den Prinzipien der Demokratie harmonisiert. Wir haben daher die Pflicht, der allgemein verbreiteten Meinung entgegenzutreten, daß die gesundheitliche Betreuung des Volkes nicht ausschließlich eine Aufgabe des Staates und seiner Sozialgesetzgebung sein darf. Es ist ein törichter Glaube, sich einzubilden, daß wir ausreichend für unsere Gesundheit getan hätten, wenn wir in einer Krankenkasse versichert sind. Uns darf es auch nicht genügen, zu wissen, daß wir im Krankheitsfalle ärztliche Behandlung frei haben. Wie falsch diese Einstellung ist, ersehen wir bereits aus den Aufrufen der einzelnen Kassen, in denen die Versicherten zu größter Sparsamkeit aufgerufen werden.

Der Mentalpositivist erinnert sich gern der alten deutschen Gesundheitspioniere und ihres segensreichen Wirkens für die Menschheit. Sie alle huldigen dem großen Gedanken Kneipps: „Was das Leben gesund erhält, kann auch die Krankheit heilen, denn jede Heilung stellt in ihrem Wesen nichts anderes als eine Gesundung dar.“ Sebastian Kneipp, der Reformator der Wasserheilkunde, wuchs wie vor ihm Prießnitz aus seinem eigenen Krankheitszustande heraus. Mit 28 Jahren geriet sein ziemlich widerstandsfähiger Körper in Verfall; aus der Weberzeit war ihm ein Rest einer alten Luftröhrenentzündung verblieben. Völlige Unfähigkeit zu körperlicher und geistiger Arbeit kennzeichneten seinen Zustand. „Ein vorzüglicher Arzt besuchte mich in zwei Jahren 195mal und konnte mir nicht helfen. Da wurde mir das Wasser gleichsam ein rettender Engel, und dieses möchte ich daher auch anderen dringend empfehlen. Aber man muß recht vernünftig verfahren bei Anwendung desselben, sonst steigert sich nur das Übel, statt daß es gehoben wird.“ Der von seinem Arzt Aufgegebene war nach Jahren vernünftiger Selbstbehandlung ein kerngesunder Mann! Das kam so: 1849 spielte der Zufall Kneipp das Büchlein „Unterricht von der wunderbaren Heilkraft des frischen Wassers, bei dessen innerlichen und äußerlichen Gebrauche, durch die Erfahrung bestätigt“ des Schweidnitzer Stadtarztes Dr. Johann Sigmund Hahn (1696 - 1773) in die Hände. Die dort angegebenen Behandlungsverfahren führte er mit großer Zähigkeit an sich durch. In der Donau bei Dillingen machte Kneipp im November die ersten Versuche, die darin bestanden, daß er wenige Sekunden bis an den Hals im Wasser verblieb. Seine Kräfte hoben sich. Im Georgium in München, wo er bis zu seiner Priesterweihe verblieb, betrieb er die Wasserkur weiter. Hier be-

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gann er mit den Gießungen, die Kneipp auch zwei Mitstudierenden verabfolgte. Im Mai 1855 siedelte Kneipp als Kaplan nach Wörishofen über, wurde am 7. April 1881 Ortspfarrer und verschied nach segensreichem Leben am 17. Juni 1897 als Prälat im Alter von über 76 Jahren. Der Beruf als Seelsorger führte Kneipp oft ans Krankenlager und obwohl er zunächst dem heilkundlichen Beruf auswich, konnte er es dennoch nicht über das Herz bringen, in zahlreichen trostlosen Krankheitsfällen einzugreifen. Die kurzen kalten Wasseranwendungen und Güsse – der Name stammt von ihm, der nie eine Geschichte der Medizin studiert hat – stellen eine Behandlungsweise dar, welche dem Arzt und Heilpraktiker auch unter ärmlichsten Verhältnissen zugänglich ist.

Wir wissen heute, daß die Wirkungen der Wasseranwendungen auf den menschlichen Organismus außerordentlich verwickelt und daß die dabei obwaltenden physiologischen Vorgänge noch teilweise ungeklärt sind. Am Beispiel des berühmten Heilpraktikers Kneipp erleben wir, daß Erfahrung, Beobachtung und Intuition gleich hoch bewertet werden müssen. Darum war auch die Lehrbarkeit der von Kneipp entwickelten Methode erschwert, denn sie setzte ein mehr oder weniger entwickeltes physiologisches Einfühlungsvermögen voraus. Aber Ärzte, die Kneipp folgten, erwarben sich dadurch große Verdienste, daß sie die theoretischen Auffassungen über die Hydrotherapie wesentlich klärend beeinflußten. Die Selbstheilung der Natur als Ausdruck der „Physis des Hippokrates“ ist von der inneren Medizin unserer Tage voll anerkannt. Man spricht sie als die Fähigkeit des Organismus an, Unordnungen oder Krankheiten seiner Organe wieder in Ordnung zu bringen. Die Hydrotherapie ist ein wesentlicher Bestandteil im therapeutischen Rüstzeug auch des protestantischen Pfarrers Emanuel Felke geworden, der ebenfalls die Tendenz zur Regulation als eine vom Ganzen ausgehende und auf den Erhalt des Ganzen gerichtete Strebung betrachtete. Was die Kneippsche Methodik im besonderen angeht, so können wir mit einem bekannten Kneipparzt fragen: „Wo gibt es eine Methode außer vielleicht der Luft-, Sonnen- und Bewegungsbehandlung, die sich mit einer geradezu raffinierten Individualisierung einer gegebenen Situation und ihren Anforderungen anzupassen vermöchte, als diese Art einer aufgelockerten Hydrotherapie?“ Die Feinheit der Dosierungsmöglichkeiten und die Beherrschung der Auswirkungsmöglichkeiten ist nach dem Urteil der das Kneippsche Verfahren ausübenden Ärzte und Heilpraktiker durch keine andere Methode erreichbar. Sie sehen in der Kneippkur zwar kein „Allheilmittel“, wohl aber eine Kur von unbestreitbarem und einzigartigem Wert, die sich heute mit bestem ärztlichen Gewissen vertreten läßt.

Kneipp lehrte, daß je kälter das Wasser ist, desto kürzer muß auch die Anwendung sein. Er verordnete kalte Sitz- und Halbbäder von nur sechs bis zehn Sekunden Dauer. Der Erwärmung, dem Eintreten der Reaktion nach der Anwendung, schenkte Kneipp die größte Beachtung. Gerade die kurzen, starken Kältereize bedingen eine rasche Durchblutung und Erwärmung der behandelten Hautpartien. Dadurch wird der verweichlichte Körper widerstandsfähig gemacht und vermag schädlichen Einflüssen der Außenwelt wie auch Stoffwechselgiften von Bakterien besser entgegenzuwirken. Auf einfachste Weise werden im Blute und in den Geweben abgelagerte Krankheitsstoffe aufgelöst und zur Ausscheidung gebracht. Ein Brunnen mit frischem Wasser, eine Gießkanne, einige Meter grobes Leinen und eine Badewanne, das sind Kneipps Instrumente der Wasserheilkunst, die uns auch das Höchste in der Hygiene, die Verhütung der Krankheiten, zu bringen vermögen. Der kalte Reiz klopft an und weckt die schlafende Lebenskraft, die allmählich aufwacht und immer reger wird. Der Kranke wird gesund, der Gesunde frischer, kräftiger und widerstandsfähiger. Die eigentliche Heilwirkung einer Wasserkur haben wir in der Umstimmung des Gesamtorganismus und den sie bewirkenden Ausgleichs- und Abwehrvorgängen zu erblicken. Behandlung

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durch Umstimmung bedeutet Aktivierung des Organismus, Reaktionsänderung der Zellen im Sinne einer Leistungssteigerung. Die Kneippschen Güsse rufen ein lichtes Rot der Haut hervor, das auf der Tätigkeit der die Gefäße erweiternden Muskulatur beruht. Die Gefäßerweiterer werden angeregt. Das ist eine tatsächliche Leistung, eine gegen den Reiz gerichtete Wirkung: eine „Re-aktion“. Im Lichte dieser und vieler anderer Einzelerkenntnisse wird unsere Haut als das nervenreichste Organ unseres Leibes zum feinsten Barometer unseres Gesundheitszustandes. Das „wußte" Kneipp durch sein Erlebnis.

Als genialer Kopf drang Kneipp tiefer in das Wesen der Dinge ein als der damalige durchschnittliche Vertreter der Schulmedizin, der im Nährboden der Vorurteile verharrte und daher die regenerierende, umstimmende, Seele und Körper erfrischende, kräftigende und dazu abhärtende Kneippsche Kur in ihrem wahren Werte nicht anerkennen wollte.

Auch als Wiedererwecker der Heilpflanzenkunde sind wir Kneipp zu großem Danke verpflichtet. Das Kräuterbuch von Bock - Sebizius aus dem Jahre 1580* gab ihm viel Anregung, „Lange Jahre hindurch habe ich sondiert und geprüft, getrocknet, zerschnitten, gesotten und gekostet. Kein Kräutchen, kein Pulver, das ich nicht selbst versucht und als bewährt befunden habe“, sagt er von sich. Im allgemeinen verwendet Kneipp nicht ein einzelnes Heilkraut, sondern eine Mischung. In „Mein Testament für Gesunde und Kranke“ gibt er im 5. Teil „Die Bereitung der Tee, Pulver, Tinkturen“ eine Reihe von Rezepten bekannt. Beliebt wurden Kneipps Heublumenauflagen. In den hautreizenden ätherischen Ölen und in ihrer auf die Bakterien wirkenden Kraft, die auch nach Aufnahme allergeringster Mengen ins Blut wirksam sind, haben wir die Erklärungsgrundlage für seine Erfolge mit Heilpflanzen zu erblicken.

Außer der von ihm besonders ausgebildeten Technik der Ganz- und Teilwaschungen spielen in der Kneipp-Kur auch die Wickel eine bedeutende Rolle. Sie kommen da zur Anwendung, wo eine intensive Einwirkung im Sinne der Auflösung und Ausscheidung krankhafter Stoffe aus dem Organismus oder Ableitung erreicht werden soll. Die älteste Form von Wasseranwendungen, die Bäder, werden – sofern sie warm sind – mit Kräuterabkochungen gegeben. So empfiehlt Kneipp, heißen Sitzbädern zur Erhöhung ihrer Wirkung kräftige Abkochungen von Zinnkraut, Heublumen und Haferstroh beizugeben. Man gibt sie wöchentlich ein- bis zweimal mit nachfolgendem kurzem kalten Sitzbad. Die Vollbäder (kalt) dauern im allgemeinen nur 6 bis 10 Sekunden, nur das kalte Fußbad wird ein bis zwei Minuten lang genommen. Weil kalte Vollbäder an Herz und Nerven zu hohe Anforderungen stellen, entwickelte Kneipp seine Halb- und Teilbäder, die sich zur Kräftigung und Abhärtung am leichtesten in jedem Lebensalter nehmen lassen.

Das Barfußgehen, das Kneipp einführte, sichert ihm allein schon einen Ehrenplatz als Wohltäter der Menschheit. Er unterschied: gewöhnliches Barfußgehen, Wassertreten und Grasgehen im Morgentau. Mit diesen drei Arten Barfußgehen diente er der Pflege und Abhärtung der Füße.               

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VORANKÜNDIGUNG Im nächsten Kontaktheft bringen wir für alle Leser, die bereits den großen Wert einer ganz und gar gesundheitsgemäßen Ernährungsweise erkannt haben, eine Einführung (mit genauen Anweisungen) in das berühmt gewordene „KOLLATH-Frühstück“ des bekannten deutschen Hygienikers und Ernährungsforschers Prof. Dr. med. Werner Kollath. Es handelt sich dabei um einen „Frischkornbrei“, der für alle Lebensprozesse im Körper (Nerven, Herz, Nieren, Lungen, Sekretion, Zähne, Knochen u. a.) von hervorragender Bedeutung ist. Werner Kollath macht Ernährungsvorschläge, die allen Lebensreformern ein besonderes Anliegen sind.

* Bock, Hieronymus: Kreutterbuch, darin underscheidt, Namen und Würckung der Kreutter, Stauden, Hecken unnd Beumen, ... , mit über 570 Holzschnitten, gedruckt von Johann Rihel in Straßburg, 1577
Ein Digitalisat der Sebizius-Ausgabe ist hier abrufbar.

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Ferdinand Vergin hat in den 1950er Jahren Gesundheitsliterur herausgegeben, erstmals taucht er in den 1930er Jahren auf (hier: 1936, im monatlichen „Schulungsbrief der NSDAP“, Artikel: Graf Gobineau, ein Vorkämpfer des Rassegedankens)

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Literaturzitat:
Vergin, Ferdinand: Ein Kneipp-Guß – eine wahre Wohltat und Labsal. Sebastian Kneipp, ein Vorkämpfer für die Volksgesundheit durch Lebensreform, S. 11 - 13 in:
Schellbach, Oscar (Hrsg.): Kontakt. Monatsschrift für positive Lebensführung. Offizielles Organ für den in- und ausländischen Freundeskreis der Schellbach-Lebensbücher und Arbeitsgemeinschaften, 5. Jg., Heft Nr. 11/1954 (15.11.1954), Baden-Baden, 52 S.

Hinweis: Trotz intensiver Recherche gelang es nicht,  einen Rechtsnachfolger zu ermitteln. Eine Bildquelle des Kneipp-Portraits wurde im Heft nicht genannt, zum Autor des Artikels finden sich keine Lebens- oder Kontaktdaten, Oscar Schellbach verstarb 1970, die Kontaktdaten seines Sohnes Hans-Jürgen in Husum oder dessen Homepages sind nicht mehr aktiv. Insofern bitten wir darum, ggf. auf das Touristikamt der Marktgemeinde Ottobeuren zuzukommen.
Von der Zeitschrift sind nur wenige Exemplare antiquarisch nachweisbar: zuletzt die Ausgabe November 1955 (= 6. Jahrgang). Sie wird weder auf der Wikipedia-Seite über Schellbach noch bei der Deutschen Digitalen Bibliothek.

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Sammlung, Abschrift und Zusammenstellung: Helmut Scharpf, 09/2022

Urheber

Ferdinand Vergin

Quelle

Sammlung Helmut Scharpf

Verleger

Helmut Scharpf

Datum

1954-11-15

Rechte

unklar